»Unser Karfreitagsgottesdienst hat sich schon relativ früh in Richtung Tradition entwickelt.« sagt Pastoralreferent Martin Kröger etwas nachdenklich. »Bereits nach dem ersten Karfreitagsgottesdienst 2012 wurden Stimmen laut, dass es diesen Gottesdienst auch im Folgejahr geben müsse.« Am kommenden Freitag, 19.04.2019, findet um 21.00 Uhr in der Altenoyther Dreifaltigkeitskirche nun der zehnte Laboratoriums-Gottesdienst am Karfreitag statt – der 31. Gottesdienst in dieser Reihe. Der Zusatz »gottesdienst anders« ist nach wie vor Programm: »Auch wenn der Termin dieses Gottesdienstes Tradition ist, haben wir dennoch in jedem Jahr einen neuen Zugang zum Karfreitagsgeschehen angeboten.« Mechthild Hanisch ist überzeugt, dass auch in diesem Jahr der Anspruch »Gottesdienst anders« eingelöst wird. »Bei unserem ersten Planungstreffen brachten drei von uns unabhängig voneinander die Idee mit, die Person des Judas in den Blick zu nehmen. Das war Grund genug tiefer einzusteigen.«
Judas Iskariot bietet eine eigene Perspektive. Aber wer ist dieser Judas? »Judas, der Verräter – Was gibt es da zu überlegen? Judas, das ist der, der Jesus mit einem Kuss verraten hat und damit ein intimes Zeichen zum Verrat genutzt hat. Das ist die gängige Betrachtung – aber nicht die einzig mögliche.« Pfarrer Ulrich Bahlmann ist sich sicher, dass die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten gelegentlich den Blick verstellen: »Warum musste Judas den Jesus so aufwendig verraten? Jesus war bekannt, hat öffentlich gewirkt. Wäre das nicht schon bei anderen Gelegenheiten möglich gewesen? Brauchte es wirklich einen Verräter?« Wie hat übrigens Jesus – als das Opfer des Verrats – den Judas angesehen? »Eine spannende Frage«, findet Sabine Orth. »Eine Antwortmöglichkeit hat uns ein mittelalterlicher Steinmetz beschert, der Judas und Jesus gemeinsam auf einem Säulenkapitell der Kathedrale von Vézelay in Burgund verewigt hat.«
Musikalisch wird dieser Gottesdienst vom Musikvermittler, Theaterpädagogen und Kirchenmusiker Friedhelm Bruns aus Münster am Piano begleitet. Das Laboratoriums-Team weist daraufhin, dass zu diesem Gottesdienst besonders Menschen eingeladen sind, die sich mit der klassischen Gottesdienstform schwer tun. »Aber das ist keine Bedingung«, sagt Martin Kröger. »Wenn Sie Interesse an diesem anderen Gottesdienst haben, sind Sie herzlich eingeladen.«
Judas – der küssende Verräter?
Wer kennt nicht aus eigenem Erleben den Gebrauch des biblischen Namens „Judas“ als Schimpfwort! Judas mit dem Beinamen Iskariot, eine bekannte Figur aus dem Neuen Testament. Sie bezeichnet einen der zwölf Jünger, die Jesus selbst berufen hat. Es handelt sich nicht um irgendeinen Jünger, sondern um den, der in Jesu Leidensgeschichte eine wichtige Rolle spielt. Der Jesus durch einen Kuss verraten und an die Hohepriester und letztlich an die römische Besatzungsmacht in Person des Statthalters Pontius Pilatus ausgeliefert hat. Das Schimpfwort meint so viel wie „Verräter“, ein Name, der auf jeden Fall negativ besetzt ist. Auch und gerade in katholischen Kreisen. Mir fällt da etwa der frühere Sevelter Kaplan Franz Uptmoor ein, der am Buß- und Bettag 1936, auf dem Höhepunkt des „Kreuzkampfes“, in einer martialischen Predigt im Wallfahrtsort Bethen das Kreuz und damit das Christentum gegen die Angriffe der NS-Machthaber verteidigte. Die christliche Überzeugung lasse man sich nicht „von hergelaufenem Volk und verräterischen Judassen“ rauben, wusste der kämpferische Kaplan damals den vor ihm versammelten Frontsoldaten ins Gewissen zu reden.
Und heute? Hält das Klischee vom Verräter noch immer, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit der Gestalt des Judas, des stigmatisierten Jüngers, der Jesus offenbar aus Geldgier ans Messer, genauer: ans Kreuz geliefert hat? Der sozusagen für einen „Judaslohn“ das Vertrauen seines Freundes missbraucht hat. Ja, lautet vermutlich die Antwort bei allen oder den meisten, die am diesjährigen Karfreitagsgottesdienst in Altenoythe teilgenommen haben. Und es waren nicht wenige, die sich voller Erwartung in der dortigen Dreifaltigkeitskirche zu abendlicher Stunde versammelt haben. Die Bankreihen waren dicht besetzt. Eine siebenköpfige Gruppe, zu der ich gehörte, war zeitig aus Vechta angereist, drei von uns sogar mit dem Fahrrad. Als wir vor der Kirche von Pfarrer Ulrich Bahlmann mit Handschlag begrüßt wurden, fühlten wir uns gleich wie Zuhause, wir kamen ja nicht zum ersten Mal. Ein freundliches Willkommen, das zu unserer Vorfreude auf den Gottesdienst passte. Es war diesmal ein besonders intensiver Gottesdienst, alles andere als leichtgewichtig, gewissermaßen Arbeit im Bethaus – das Laboratorium-Team hat seinem Namen alle Ehre gemacht.
Die Geschichte ist bekannt, hundertmal gehört, in einzelne Szenen umgesetzt. Eingeleitet von der „Wahl der Zwölf“ – hier wird Judas bereits als der „Verräter“ unter den Jüngern eingeführt – werden das Paschamahl, Jesu Verrat und seine Leidensgeschichte bis zur Hinrichtung und zum Tod am Kreuz erzählt, unterbrochen von querschießenden Kommentaren, die in Brecht-Manier mit Blick auf Judas das Geschehen hinterfragen und uns zum Weiterdenken anregen wollen. Eine Komposition von eindringlichen Texten, die volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Wohltuend in diesem Kontext die gefühlvolle musikalische Begleitung durch den Theaterpädagogen und Kirchenmusiker Friedhelm Bruns aus Münster, auch die Abwechslung von bekannten Kirchenliedern zum Mitsingen und modernen Stücken von den Toten Hosen und Heinz Rudolf Kunze. Sie verschaffen Atempausen und wirken fast beruhigend im Orchester der Stimmen, die uns von allen Seiten auf diesem Parcours von Verrat und Hoffnung begleiten. Die Texte und Rollen sind gut verteilt, alle aus dem Organisationsteam um Pastoralreferent Martin Kröger bringen sich auf ihre Weise in diesen „anderen Gottesdienst“ ein.
Was mich (und wohl auch meine Begleiter) am stärksten beschäftigt hat, ist die Frage nach der Rolle des Judas. Und die nach seinen Motiven. War er nur geldgierig? Hat er es nicht doch „gut gemeint“ und wollte Jesus aus der Reserve locken? Dass dieser sich als der verheißene Messias zu erkennen gibt und seine Macht demonstriert, um das jüdische Volk aus der Gewalt der römischen Unterdrücker zu befreien. In Judas nur einen Verräter zu sehen, eine gescheiterte Existenz, die am Ende ihre Tat bereut und sich aus Verzweiflung in den Selbstmord flüchtet, ist zu kurz gedacht. Steckt nicht in jedem/r von uns ein Judas? Der zuerst an sich denkt und für eine scheinbar gute Sache oder für seinen eigenen Vorteil „Verrat“ übt, auf der Arbeit, in der Familie, in Freundschaften, im täglichen Leben? Wer ist schon ohne „Sünde“, ohne Fehlverhalten? Für Judas, die biblische Gestalt, kommt noch hinzu, dass sie allem Anschein nach gar nicht anders handeln konnte, sie ist Täter und Opfer in einer Person, eine tragische Figur. Die Schrift musste sich ja erfüllen, der Heilsplan Gottes sich vollenden. Einer musste Jesus verraten, und die Jünger selbst waren unsicher, wer es tun würde. Sie waren sich nicht unähnlich; man denke nur an Petrus, der Jesus sogar dreimal verleugnet hat. Jeder unter den Jüngern ahnte, dass er es sein könnte, der Jesus ausliefern würde. Bei mir schlich sich die Frage ein, ob Judas nicht selbst Grund genug hätte, Gott anzuklagen. Er könnte ihn fragen: Warum hast Du mich ausgewählt, der ich im Grunde doch gar nicht frei entscheiden konnte? Warum wurde ich „missbraucht“, damit Dein Sohn seinen vorbestimmten Weg gehen und sein Erlösungswerk für uns zu Ende führen kann?
Nach über einer Stunde, gegen Ende des Gottesdienstes, wird die Spannung aufgelöst. Gott sei Dank, möchte man rufen. Dazu trägt bei: die Darstellung „Der gute Hirte von Vézelay“, ein ornamentales Element, das den Abschluss einer Säule in der romanischen Basilika von Vézelay bildet, einem kleinen Wallfahrtsort in der französischen Region Burgund. Zu sehen ist Jesus, der Judas auf seinen Schultern heimträgt, von dem es bei Markus und Matthäus heißt, es wäre besser, wenn er nie geboren wäre. Die frohe Botschaft lautet: Auch der „Verräter“ wird durch die Barmherzigkeit Gottes gerettet, das Erlösungsgeschehen geht nicht an ihm vorüber. Die Liebe Gottes ist größer als alles irdisch-menschliche Versagen. Und dazu trägt ferner bei: der Segenswunsch, den jede/r von den Anwesenden an ihren/seinen Nachbarn in der Bank weitergibt. Stille Post für Hoffende, für die der christliche Glaube Orientierung gibt und eine Botschaft beinhaltet, die selbst angesichts der aktuellen menschlichen Verbrechen in der Kirche nicht zu erschüttern ist.
Willi Baumann