»Du Opfer!« – »In meiner Welt ist Opfer eine Beleidigung« so schreibt die Theologin und Schriftstellerin Christina Brudereck in ihrem Text »Verzeihen«. Bei der Vorbereitung auf den diesjährigen Karfreitagsgottesdienst ist das Vorbereitungsteam von »Laboratorium – gottesdienst anders« dieser Spur nachgegangen. Opfer: Menschen sind Opfer und werden dazu gemacht. Aber Menschen bringen auch Opfer, damit an anderer Stelle Lebenschancen entstehen. In der Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth kommt beides zum Ausdruck. Grund genug den Karfreitagsgottesdienst von dieser Seite anzugehen. Ein Gottesdienst zum Innehalten, Beten, Singen, Fühlen und vielleicht auch ein Gottesdienst zum Mittragen.
Musikalisch begleiten den Gottesdienst Charlotte Bettermann am Kontrabass und Johannes Festerling an der Gitarre.
Ein »anderer« Gottesdienst für Menschen, die sich mit klassischer Liturgie schwer tun, aber den Karfreitag mit einem Gottesdienst beschließen möchten. Ein Gottesdienst für Menschen, die sich mit Laboratorium »angefreundet« haben oder einfach einmal kennenlernen möchten.
Karfreitag oder: In Liebe auf der Seite der Schwachen und Opfer
Es geht um einen König, sagte das Werbeplakat zum Karfreitagsgottesdienst des Laboratoriums. Die Krone als Insigne eines ehrwürdigen Herrschers überragte darauf glanzvoll den Dornenkranz, ein christliches Zeichen größter Erniedrigung und Verachtung des Herrn.
Etwa 370 Kirchenbesucher waren der Einladung zur Passion am Karfreitag in die Dreifaltigkeitskirche gefolgt. Auf dem Kirchenvorplatz ragte ein Holzkreuz in den Abendhimmel, gekrönt mit den Plakatsymbolen. Die starke Symbolik fand im Kirchenraum ihre Fortsetzung. Im abgedunkelten Gotteshaus herrschte die Farbe Schwarz vor. Die große Altarwand mit dem verhüllten Kreuz war in hoffnungsvolles grünes Licht getaucht, purpurrote und lila Leuchtstreifen setzten im Chorraum Akzente. Die aufgeschlagene Bibel mit den Worten der Leidensgeschichte Jesu aus dem Evangelium nach Markus präsentierte sich im Kerzenlicht.
Zur Eröffnung des Gottesdienstes wurde das Kreuz vom Kirchenvorplatz schweigend in den Altarraum getragen und dort aufgestellt. Da stand es, stumm und doch sprechend, beschämend und ergreifend vor den bequemen Kirchenbänken und löste Beklommenheit aus. Das Unbehagen wurde aufgegriffen im Gedicht von Erich Kästner mit dem Titel „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag.“ Mit ungeschönten Worten beschrieb es die Ungerechtigkeit dieser Kreuzigung Jesu, erklärte sie emotionslos zum Justizmord, der in der Praxis nun mal bis heute vorkommt. Nicht Gerechtigkeit war der Maßstab für dieses Urteil, sondern die Aburteilung eines vermeintlichen Verbrechers zur persönlichen Profilierung. Eine erschreckende Erkenntnis, die durch die klagende Kontrabass-Melodie intensiviert wurde. In der Kirche herrschte lähmende Stille.
Im Gebet wurde Gott um Hilfe angerufen, nicht selbst in dieser Form zum Opfer zu werden und nicht selbstherrlich Menschen zu Opfern zu machen. Die Passion nach dem Evangelium des Markus wurde in drei Abschnitten verkündet. Eine Bildprojektion schloss sich jeweils an. Jedem Abschnitt voraus ging eine Schriftstelle mit der Ankündigung des Leidens, Sterbens und der Auferstehung, die Jesus selbst seinen Jüngern in Kapitel 8,9 und 10 des Markusevangeliums machte. Trotz der Deutlichkeit der Worte Jesu verstanden die Jünger die Bedeutung seines Opfertodes nicht. Sie versprachen sich persönlichen Profit von ihrer Nachfolge: Petrus suchte Ansehen, Judas lockte das Geld, Jakobus und Johannes erhofften sich Privilegien.
Der ersten Teil der Passion vom Leiden und Sterben Jesu nach Markus wurde vorgetragen. Es waren die Berichte von der Abendmahlsfeier mit den Jüngern, die beiden Ankündigungen des Verrats durch Judas und der Verleugnung durch Petrus. Im Paschamahl schenkte sich Jesus den Jüngern in Brot und Wein. Er schaffte damit die größtmögliche Verbindung zwischen Gott und Mensch. Die Jünger aber versagten. Sie ließen zu, dass Jesus zum unschuldigen Opfer wurde. Auf der Projektionswand im Altarraum erschien in übergroßen Buchstaben das Wort »Opfer«. Es wurde wie ein Schimpfwort mehrmals laut in den Raum gerufen. Auf dem zweiten Bild hockte eine Person am Boden, gesichtslos, gedemütigt, scheinbar unfähig zur Gegenwehr. Viele Finger zeigten auf sie, zwangen sie unbarmherzig in die Rolle der Ausgegrenzten. Die intensive Aussagekraft beider Bilder und Gesten schockierte und machte jede Verbalisierung überflüssig.
Viele Besucher beteiligen sich anschließend am alternativen Opfergang. Sie trugen das große Holzkreuz mit Dornen- und Goldkrone durch die Kirche. Sie gaben es von Hand zu Hand weiter und bekundeten damit ihre Solidarität und ihr Mitgefühl für Menschen, die ohne Selbstverschuldung in ihrem Leben zu Opfern wurden, sei es durch Unfälle, Kriege, Naturkatastrophen oder anderes. Dazu intonierte Charlotte Bettermann mit dem Kontrabass innig und getragen das Lied: »O Haupt voll Blut und Wunden« von Paul Gerhardt. Alle sangen nach dem Kreuztragen das Lied der Taizé-Gemeinschaft: »Ubi caritas« (Wo Güte und Liebe herrschen, da ist Gott).
Der zweite Teil der Passion wurde vorgetragen. Es handelte sich um die Schriftstellen Jesus im Garten Getsemani, der Verrat durch Judas und die Gefangennahme Jesu. Die Dramatik und Brutalität der biblischen Erzählung wurde durch Kontrabass-Sequenzen unterstrichen. Der Zuhörer hörte von Todesangst, Gleichgültigkeit, Vertrauensbruch, Feigheit, Geldgier. Jetzt zeigte die erste Bildprojektion einen schwer beschädigten Unfallwagen. Neugierige Gaffer fotografierten das Autowrack, fragten nicht nach Verletzten, versagten jede Hilfeleistung, gingen fort. Das zweite Bild zeigte einen gehetzten Menschen, der vor übermächtigen bedrohlichen Ängsten davonlief. Die Angst im Nacken schien den Menschen beim nächsten Schritt zu vernichten.
Zum einfühlsamen Kontrabass-Spiel erfolgte der zweite Kreuzgang aus Solidarität mit den Opfern sozialer Missverhältnisse in der Welt. Durch Egoismus, kaltblütige Verbrechen und Gewalttaten einzelner werden andere zu Opfern, werden ihrer Würde beraubt. Erneut entschlossen sich viele Besucher zum Kreuztragen, ein berührendes Bekenntnis.
Der Vortrag der Leidensgeschichte wurde mit Teil 3 fortgesetzt: das Verhör vor dem Hohen Rat, die Verleugnung durch Petrus, Jesus vor Pilatus. Zu erkennen waren in den Schriftstellen Falschaussagen, ein Fehlurteil, Verleugnung, Feigheit, Entwürdigung. Auch die nächste Bildprojektion stand treffend im Bezug zum Text. Sie zeigte schemenhaft eine Bittstellerin. Dazu schallte mehrfach der flehentliche Ruf: Bitte! durch die Kirche. Man erspürte die soziale Stellung der Bettlerin durch die besondere Fototechnik. Zerfließende Umrisse machten die Frau unauffällig, unwichtig, schoben sie in die Grauzone. Nur ihre bittenden Hände waren in klaren Konturen erkennbar und appellierten an den Betrachter. Das zweite Leuchtbild zeigte ein Smartphone mit Einträgen aus den sog. sozialen Netzwerken. Es handelte sich um Diskriminierung und Verunglimpfung, Cybermobbing in Perfektion. Die entwürdigenden niederträchtigen Schmähungen und Drohungen entsetzten die Kirchenbesucher.
Der dritte Kreuzgang erfolgte aus Solidarität zu Menschen, die zu Unrecht beschuldigt, beleidigt, gemobbt, verurteilt werden. Kontrabass und Gemeindegesang beendeten auch diese Sequenz.
Die 2000-jährige Leidensgeschichte Jesu in Verbindung mit den Schreckensbildern von heute bedurften an dieser Stelle der Einordnung in das Ostergeschehen. So folgte eine Predigt, die zu einem hoffnungsvollen Ausblick aus Opfertragödien verhalf, Bedrücktheit nahm, den Blickwinkel weitete und das Augenmerk auf Jesus den Erlöser richtete. »Die Menschen werden nicht gescheit«, schrieb Erich Kästner 1930.
Persönliche Erlebnisse ließen ihn nach vielen Lebenskämpfen frustriert die Frage stellen: War das alles? Das Evangelium zeigt uns klar, dass Leid und Opfer nur ein Teilbereich unseres Lebens ausmachen. Es ist wichtig, nicht in der Opferrolle zu verharren. Viele Menschen sind häufig Opfer ohne das eigene Zutun. Andere werden von Menschen zum Opfer gemacht. Immer dominiert aus Opfersicht die Ohnmacht, die lähmt und begräbt.
Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Nach dem Vorbild Jesu gibt es auch das Opfer als Chance für ein Miteinander, als Ausdruck von Wertschätzung und Zuneigung. Einer nimmt freiwillig etwas in Kauf für eine gute Sache oder für Mitmenschen, eigentlich eine Alltagserfahrung. Man gibt für andere, nimmt sich zurück, verzichtet auf seinen Vorteil. Dazu sind Kraft und Stärke erforderlich. Klaus Nelissen, katholischer Rundfunkbeauftragter aus NRW formuliert: »Karfreitag ist der Tag, der sagt, wozu wir fähig sind«. Christina Brudereck drückt es im Gedicht »Verzeihen« anders aus. Sie spricht von Güte, Gütekraft. An der Seite der Schwachen zu sein, das zeigt uns Jesus. Er macht keine Opfer, fordert keine Opfer. Er ist freiwillig Opfer, damit sich die Welt zum Guten ändert und durch sein Kreuz unsere Kreuze gelindert werden. Wo es nicht geht, wo unsere Arme zu kurz sind, dürfen wir das Leid Gott anvertrauen. So bleibt das Grauen von Karfreitag nicht das Letzte. Der Tod ist stark, aber das Leben ist stärker. Es folgt die Auferstehung, sagt unser Glaube.
Nach einem ausdrucksstarken meditativen Kontrabass-Solo wurde abschließend der schmerzliche Höhepunkt der Leidensgeschichte nach Markus vorgetragen: Dornenkrönung, Kreuzweg, Kreuzigung, Verhöhnung und Tod Jesu. Der Hauptmann der Kreuzwache spricht es aus: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn«. Damit ist klar, dass die Ära Jesu hier nicht beendet ist. Gott stirbt nicht. Es wird weitergehen mit Christus! Im Kirchenraum herrschte minutenlange Stille. Sie gab den Anwesenden Raum für eigene Gedanken, für Ergriffenheit, für Schlussfolgerungen, für Orientierung. Tod macht betroffen, damals wie heute. Leben sollte ausgelöscht werden. Doch es kam anders. Wir preisen den Tod Jesu – bis heute. Wir glauben, dass er lebt – bis heute. Wir hoffen, dass er kommt zum Heil der Welt – bis heute.
Die Fürbitten mit nachfolgendem Vater Unser formulierten mit ihren Anrufen, was nötig ist: Stärke und Mut zum Einspruch bei Verurteilung und Demütigung, Kraft zum Ertragen, Aufrichten, Stärken, zum Beenden von Gewalt und Bereitschaft zur Zuwendung. So kann die Botschaft Jesu in der Welt lebendig werden zum Lobe Gottes.
Die Umsetzung dieser Erkenntnis wurde ohne Aufschub konkretisiert, indem das große Kreuz in feierlicher Prozession wieder auf den Kirchenvorplatz getragen und dort errichtet wurde. Im Fackelschein schloss der beeindruckende Gottesdienst mit dem Textbeitrag »Verzeihen« von Christina Brudereck. Darin heißt es: »Der Schmerz wird nicht das letzte Wort haben«. Osterhoffnung und Osterfreude leuchteten auf. Sie mögen auch über die Feiertage hinaus bestehen bleiben.
Hildegard Hettwer